Geistersommer - eine Kurzgeschichte

Im Sommer, als ich fünfzehn war, lebte ich beinahe unsichtbar unterm Dach. Die Hitze staute sich zwischen den schrägen Wänden, durch die offenen Dachfenster strömte die von den Ziegeln aufgeheizte Luft.

 

Es war der Sommer, in dem meine Mutter mehr Geister sah, als sonst. Überall entdeckte sie Spuren unheimlicher Begebenheiten: Im Treppenhaus tauchte Moos auf, in der Telefonleitung ein Knacken, im Auto Abhörwanzen.


 Von Geistergespinsten umgeben vergaß sie das Backpulver für den Kuchenteig und kochte die Nudeln ohne Salz. Als die Kaffeelöffel verschwanden, musste ich sie im Garten vergraben haben, ganz sicher. Sie hatte mir die Mutterschaft gekündigt.

 

Die tattrige Tante des Vaters huschte tagsüber mit wehendem Nachtgewand durchs Haus, verschüttete den Inhalt des Nachttopfs auf der Treppe oder schlich zu den Hühnern, mit denen sie über Dinge sprach, die nur das Federvieh verstand.

 

Der Vater bemühte sich, dem Spuk Einhalt zu gebieten. Er vertrieb alle Geister mit Gebrüll.

 

Im Juni bekam er zum Geburtstag ein Magengeschwür.

 

Ich übte mich in der Kunst des Unsichtbarmachens. So lange ich unsichtbar blieb, meine Probleme selbst löste und niemandes Ansichten infrage stellte, ging es mir gut.

 

Die Schule meisterte ich von Klasse zu Klasse, indem ich den Arm unten behielt und möglichst selten aufsah. Nur im Sport half mir das nichts: Am Ende merkte die Lehrerin immer, dass ich in keine Mannschaft gewählt worden war.

 

Nachmittags stob ich mit dem Fahrrad davon. Mais-Äcker und Wiesen flogen vorbei, Waldflecken und trockene Gräben. Staub und Kiesel spritzten auf, Fliegen klatschten mir ins Gesicht. Wenn die Beine zitterten, sprang ich ab, schob das Rad quer über Weizenstoppel, suchte einen kühlen Platz am Waldrand.

 

Manchmal kam Max mit, der Hund.

 

Die Geister blieben zuhause.

 

Dort, wo mich niemand hörte, niemand sah, dort, wo die Autobahn wie Meeresrauschen klang, von Weitem die Schlote der Fabrik herüberschauten, fand mich das Gefühl, nicht allein zu sein.

 

Draußen kamen tausend Geschichten zu mir, von Hoffnung und Trauer und Liebe. Ich sah und erlebte so vieles, und es nahm mich mit.

 

Wenn er dabei war, erzählte ich Max, dem Hund, was geschah. Er grub derweil nach Mäusen.

 

Zum Abendessen kam ich nachhause, machte mich kurz sichtbar, damit es keinen Ärger gab, aß still und schnell. Dann huschte ich unters Dach in mein Zimmer.

 

Unter mir dröhnten die Stimmen der Eltern, wenn sie zu Bett gingen. Während die Mutter Geister beschrieb, die der Vater brüllend verscheuchte, lag ich wach und versuchte zu lesen. Mädchengeschichten von Ponyhöfen, „Ein Herz für Tiere“. Manchmal weinte ich auch.

 

Gelegentlich aber flogen die Geister aus. Die Tante des Vaters zum Blaubeerenpflücken, die Eltern aufs Feld. Das war meine Gelegenheit, zuhause zu sein.

 

Eines Tages tappte ich in die Küche, die zugleich das Wohn- und Arbeitszimmer war. Im oberen Schreibtischfach roch es nach Leder und Bleistiftminen, im unteren Fach nach altem Papier.

 

Ich zog Fototaschen mit vergilbten Abzügen heraus. Darauf undeutlich Leute, die ich nicht kannte. Lehrbücher über Landwirtschaft und alte Unterlagen. Der Rechenschieber meines Vaters, den ich nie verstand.

 

Aber hinter all dem, an der Rückwand des Schreibtisches lag ein Schatz. Ein Stapel Bücher.

 

Das Taschenbuch mit dem roten Einband zog mich an. Die Seiten schon mehr braun als beige, der Buchdeckel zerschunden. Auf dem Bild eine selbstbewusste Frau mit Sonnenbrille, an ein Auto gelehnt, dahinter Wüste. „Schatten auf dem Weg.“ Ein Krimi.

 

Eilig verstaute ich alles, schloss den Schreibtisch und machte mich mit dem roten Buch unsichtbar. Ich las es in einer Nacht.

 

Im Morgengrauen wusste ich es: Ich wollte schreiben, musste schreiben. Jetzt, wo ich ahnte, dass mehr möglich war, als Mädchengeschichten von Ponyhöfen. Dass düstere Geschichten, Tod und Verzweiflung und verrückte Ideen zwischen Buchdeckel gedruckt wurden. Wie sollte ich keine Geschichten schreiben - sie retteten mir so lang schon das Leben.

 

In der Hitze des Sommers, die sich unter dem Dach staute, nahm ich den Deckel von Vaters alter Schreibmaschine. Ich spannte Papier ein und klopfte mit zwei Fingern auf die Tasten, dass die Typen sprangen. Es klackerte, klingelte, ratschte und mir taten die Finger weh.

 

Ich hätte die elektrische Maschine benutzen können, die ich für den Textverarbeitungsunterricht bekommen hatte, doch der Geist der Mechanik behagte mir mehr.

 

Aufs Papier flog eine Geschichte, die im heißen Dschungel Südamerikas spielte, zur Zeit der spanischen Eroberung. Eine Geschichte von Blutopfern, Ungerechtigkeit und Verrat. Drei Seiten nur. Oder fünf. Ein paar Stunden Flucht für mich. Und das Glück, der Fantasie eine Form zu verleihen, die mich so reich beschenkte. Ich war es ihr schuldig und ich liebte sie.

 

Das sichtbare Ergebnis hatte auch einen praktischen Nutzen: Als der Textverarbeitungslehrer auftrug, irgendetwas eine Seite lang abzutippen, gab ich ihm einfach ein Blatt aus der Geschichte. Wenn es um Hausaufgaben ging, tat ich gewöhnlich auch, als wäre ich nicht da.

 

Der Lehrer, markierte Tippfehler, fragte mich beim Zurückgeben, ob ich das selbst geschrieben hätte. Ich nickte. Er lobte mich dafür.

 

Ich war erleichtert, dass er meinen eigenen Text als Hausaufgabe akzeptierte. Doch für einen winzigen Moment freute ich mich auch, nicht ganz unsichtbar zu sein.