Das Spannungsfeld und der Ruf, eine Geschichte zu erzählen

Zu zählen, wie viele Geschichten bis jetzt geschrieben worden sind, ist sicherlich eine Lebensaufgabe. Immer wieder erscheinen neue Romane, Kurzgeschichten, Reportagen, die echte Geschichten nacherzählen und es ist kein Ende in Sicht.

 

Und jetzt soll es also noch eine weitere Geschichte geben. Natürlich hätte ich mir jedes beliebige Thema herausgreifen können, eine Anekdote, eine erlebte Begebenheit, die sich verfremden lässt, ein fertiges Erzählmuster mit neuen Figuren und Räumen beleben. Aber bei mir ist das so: Am Anfang steht nicht der Plan, sondern ein Gefühl.

Im Fall von "scheinschön" ist sicherlich nachvollziehbar, wie ich dazu kam, einen Roman vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise zu schreiben. Die Tagesnachrichten überschlugen sich im Herbst 2015 mit immer neuen Meldungen über ankommende Flüchtlinge, die ihnen entgegengebrachte Hilfsbereitschaft - und die offene Ablehnung, die Asylsuchenden und bald auch Helfern entgegenschlug.

 

Plötzlich schien den Menschen in Deutschland aufzufallen, dass sie etwas haben, in dessen Genuss auch andere kommen wollten. Das löste ganz unterschiedliche Reaktionen aus. Die einen waren stolz, Bürger eines sicheren, lebenswerten Landes zu sein, das Flüchtlingen Schutz bieten kann. Andere sahen ihren Besitz, ihr Vorrecht auf Geldmittel, Schulbildung und Sicherheit infrage gestellt. Mir kam es vor, als würde die Konfrontation mit den neu ankommenden Menschen, von denen man nichts wusste, als dass sie überwiegend jung und männlich waren, den Einheimischen einen Spiegel vorhalten, in den sie lange nicht geschaut hatten.

 

Die einen entdeckten darin die Angst, dass das schöne Leben nicht von Dauer sein könnte. In der Tat leben wir auf großem Fuß, insgesamt im Überfluss, sind rundumversorgt mit Sozialleistungen - doch das Unheil schwebt schon eine Weile sichtbar, aber noch so vage, dass es zu verdrängen ist, über uns. Das Rentenversicherungssystem droht zu kollabieren, Krankenkassenleistungen werden zusammengestrichen, die Beiträge im Gegenzug erhöht. Immer mehr Menschen müssen Nebenjobs annehmen, um die gestiegenen Lebenshaltungskosten abzufangen, denn die Löhne steigen in den meisten Branchen nur langsam. Was zwar dem Wachstum der Wirtschaft zu Gute kommt, aber nicht den vielen Menschen, die für den Reichtum weniger arbeiten.

 

Dass Umbrüche bevorstehen, ist nicht zu leugnen. Vage bestanden Sorgen und Befürchtungen schon lange. Mit den ankommenden Flüchtlingen aber brach in manchen Köpfen Panik aus. Wir stehen doch selbst am Abgrund - und sollen noch andere aushalten?

 

Dazu kam ein diffuses Gemisch von Ängsten, die mir tiefer verwurzelt scheinen. Plötzlich bekam die Gesellschaft Angst um ihre Frauen. Einfallende Männermassen in der Sturm-und-Drang-Phase, das konnte nur das Schlimmste bedeuten, und zu früheren Zeiten bedeutete ein solches Bild wohl auch, dass jede Frau, die nicht sicher versteckt war, zum Freiwild wurde. Kriege gab es genug, Soldaten jeder Armee bedienten sich, wo sie Frauen in die Finger bekamen. Sicher nicht jeder Soldat. Aber genug, um in diesem Fall alte Schutzprogramme wiederauferstehen zu lassen. Der zu befürchtende Frauenraub sorgte für Falschmeldungen und Aufregung, die bis in den Kreml reichte.

 

Sofort formierten sich Deutsche zum Schutz von Frauen - in deren Händen sich vorher sicherlich nicht viele Frauen gut aufgehoben gefühlt hätten. Da standen plötzlich Feminismus und Frauenrechte auf den Fahnen von Leuten, die sich zuvor mit erzkonservativen Wertvorstellungen hergetan hatten. Alice Schwarzer wurde wieder interessant.

 

Frauen waren plötzlich gefährdet und schutzbedürftig. Dass viele ganz ohne nationale Ausnahmesituationen und Flüchtlingskrisen in destruktiven Strukturen gefangen sind, Missbrauch und Ausbeutung erleben, interessiert betreffende "Frauenbeauftragte" nicht.

 

Der politische Ton verschärfte sich, persönliche Schuldzuweisungen ("Danke, Merkel") und radikale Forderungen traten auf den Plan. Der Unmut, die von Ablehnung und Missgunst geprägte Denkweise, wie man sie bei bierseeligen Kneipengesprächen und nach der Lektüre der Bildzeitung schon immer erleben konnte, fand den Weg aus dem privaten Raum in die Öffentlichkeit. Dort stieß sie auf zunehmende Resonanz, verstärkte sich dank der Echowirkung sozialer Medien weiter.

 

Auf Facebook begannen sich Schreckensbotschaften schneller zu verbreiten als Magen-Darm-Viren in Kindergärten - viele davon frei erfunden. Doch das störte nicht: Die Empörung war echt.

 

Es entstand ein Klima, in dem ein Mensch, der grundsätzlich für die Unterstützung Hilfsbedürftiger eintritt, schon zum Volksverräter mutiert. Der schreckenerregende Gutmensch war geboren.

 

Bei mir selbst konnte ich ab dem Herbst 2015 beobachten, wie sich ein flaues Gefühl ausbreitete und hässliche Konturen annahm. Ich bin eine Frau, die nie über Feminismus nachgedacht hat, weil es in meiner Welt keinen Wert-Unterschied zwischen Mann und Frau gibt. Ich bin dankbar um die Sicherheit und um das liberale Klima, in dem ich leben darf, um unsere Demokratie und die vielen Errungenschaften Europas - auch wenn vieles nicht perfekt ist. Verglichen mit der Situation nicht allzu weit entfernter Länder, leben wir hier im Paradies. Um dieses Paradies bekam ich Angst.

 

Nicht, weil Asylbewerber nach Deutschland kommen, viele von ihnen dauerhaft bleiben wollen. Nicht weil die neuen Nachbarn Muslime sind, anders aussehen als die alten, nein: Weil plötzlich Hilfsbereitschaft und Mitgefühl, Offenheit und Toleranz zu Attributen geworden sind, deren man sich in den Augen vieler schämen sollte. Weil Menschen mit Parolen gegen Ausländer, Homosexuelle und alle, die sie sonst für "unpassend" halten, auf die Straße gehen. Und ihren Hass als "freie Meinungsäußerung" zur Schau stellen.

 

Mir macht das Angst. Mich beschäftigt dieses Aufblitzen von Hass und Barbarei. Der Zivilisations-Firnis war immer dünn. Nun hat er an manchen Stellen Löcher.

 

Mein Roman-Projekt "scheinschön" nahm in den Anfängen dieser Entwicklung im Winter 2015 Gestalt an. Es packte mich, es schüttelte mich: Ich musste darüber schreiben. Die gesellschaftliche Situation sollte zugleich Kulisse und Akteur sein. Doch mit welchen Personen wollte ich das Stück besetzen, welche Geschichte sollten sie spielen?

 

Das werde ich Stück für Stück erzählen.

Wie ich die erschreckende Bekanntschaft einer meiner Figuren machte, erfahrt ihr im nächsten Beitrag.