Mal reinlesen?

Wer zuletzt kommt, bringt den Teller rüber.

Diesmal hatte es Judit erwischt.

Sie nahm den Teller entgegen und machte kehrt. Zumindest war er nicht allzu voll und die Soße so dick, dass sie unmöglich überschwappen konnte. Trotzdem hasste sie es. Jedes Mal, wenn sie dran war.

Langsam, weil sie keine Lust hatte, anzukommen, ging sie den Flur entlang, an der Vorratskammer, dem Bad und der Kellertreppe vorbei, bis sie zu der Tür kam, die in die hintere Kammer führte.

Während der größte und sichtbare Teil des Hauses aus uraltem Fachwerk bestand und auch im Winter trocken war, bestand die hintere Kammer im Grunde nur aus Brettern. Ein provisorischer Anbau, zu dem ein schmaler Durchbruch gemacht worden war.

Judit nahm den Teller mit einer Hand und klopfte zaghaft.

Dann horchte sie vom Haus in den Anbau hinaus.

Nichts.

Sie klopfte noch einmal.

Jetzt raschelte etwas, kein kehliges, unterdrücktes Husten drang zu Judit herein.

Sie atmete tief durch, dann drückte sie die schmiedeiserne Klinke und zog die Tür langsam auf.

Stickige Hitze und Dunkelheit sickerten ihr entgegen.

Im letzten Lichtstrahl, der durch das schmale, vom notdürftigen Putzen verschmierte Fenster strich, tanzten Staubkörnchen.

„Dein Essen“, sagte Judit.

Sie sah den Adressanten nicht, hörte keine Antwort. Nur ein rhythmisches Plinkern. Wie von tropfendem Wasser.

„Gulasch. Mal wieder“, fügte sie deshalb hinzu, damit zumindest irgendetwas gesagt war.

Judit kämpfte mit ihrem Widerwillen. Am liebsten wollte sie weglaufen, nie wieder in die Nähe dieses Verschlags kommen. Innerhalb des Hauses war es schon schlimm genug.

Zögernd trat sie in den Anbau hinein und kippte beinahe um. Es war unerträglich heiß hier drin, obwohl es nach Regen roch und ein schwüler Dunst von irgendwoher aufstieg.

Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das Dämmerlicht, Judit nahm den Umriss des Tisches wahr, der vor einem über und über mit Sachen vollgestapelten Sofa stand. Ein winziges Eckchen des Tisches war frei und dorthin stellte Judit den Teller.

Wie konnte man so nur leben? Und lebte der Schatten überhaupt noch.

Auf dem im Dunkeln liegeden Sofa bewegte sich etwas. Langsam kam ein Löffel zum Vorschein, den eine runzelige Hand hielt. Er zitterte ein wenig.

„Tut mir leid, dass ich dir nichts Besseres bringen kann“, sagte Judit.

Und als sie sich das sagen hörte, wurde ihr mit einem mal klar, dass das stimmte. Es tat ihr wirklich leid. Von ganzem Herzen, dass sie in diese winzige, dunkle, hässliche Kammer ein paar jämmerliche Kartoffeln und lieblose Brocken klein geschnittenen Fleisches brachte.

„Danke, Judit“, flüsterte die Dunkelheit.

Judit schämte sich, wie sie sich noch nie geschämt hatte. Heiß wallte ein Gefühl von Schuld in ihr auf. Sie rang mit sich, suchte nach einem Wort, nach mehreren, um irgendwie zu sagen, was sie sagen wollte. Doch sie wusste keins. Es gab keine Worte.

Rückwärts floh sie zurück ins Haus, schloss ganz leise, fast zärtlich die Tür und wünschte zugleich, sie zuzuschlagen und zu rennen. Einfach zu rennen, so schnell sie ihre Füße trugen, irgendwohin, wo es keine Bretterverschläge und faltige Hände mit Löffeln gab, die sich aus der Dunkelheit schälten.