Von einer, die auszog, um sich selbst zu finden

Seit Tagen treibt mich die Erinnerung jetzt um. Etwas drängt mich, hier davon zu erzählen, obwohl ich nicht sicher bin, ob es wirklich hierher gehört.

 

Aber als Kreativer hat man nur zwei Möglichkeiten: Entweder hartnäckiger im Ignorieren einer Botschaft sein, als die Botschaft selbst - oder man gibt nach und sieht zu, was dann passiert. Letzteres ist immer die spannendere Lösung und meistens auch die richtige.

 

Also denn, hier ist sie: meine Reise, zu mir selbst.

Lange Zeit dachte ich ja, ich wäre nicht ganz richtig. Vielleicht nur vom Storch auf die falsche Schwelle geliefert? Aber je länger ich zur Schule ging und dort Jahr um Jahr deutlicher merkte, dass ich nicht nur schlecht in meine eigene Familie passte, sondern auch kaum zu meinen Klassenkameraden, desto verkehrter fühlte ich mich. Die andern fanden mich wahrscheinlich genauso komisch, wie ich sie.

 

Als ich von "Zuhause" weg ging, in einer wunderbar vielfältigen Stadt wie München Zuflucht fand, begann ich nach und nach wieder klarer zu sehen. Hier war der allgemeine Horizont ein ganz anderer, jeder lief herum, wie er wollte, es gab für jeden Geschmack Kultur oder Nichtkultur und vor allem wusste natürlich niemand, wie verkehrt ich mich all die Jahre zuvor fühlte. Um ehrlich zu sein, es passierte etwas völlig unerwartetes: Die Leute dachten anscheinend, ich wäre normal.

 

Zumindest lachte mich niemand aus, niemand bemägelte meinen fehlenden Ehrgeiz beim Brötchenverkaufen, niemand sah das Ende der Welt gekommen, weil ich meine Klamotten nicht bügelte. Und obwohl mir nicht viel von meinem Azubi-Gehalt übrig blieb, nachdem ich Wohnung und Essen davon bezahlt hatte, konnte ich zum allerersten Mal einfach Urlaub machen, wie ich es wollte.

 

Eigentlich wollte ich nach Neuseeland. Ans andere Ende der Welt. Mich dort am allerliebsten monatelang mit einem Schlafsack und den allernötigsten Sachen herumtreiben, unterm Sternenhimmel schlafen, mit der Morgendämmerung aufwachen, jedes Hindernis alleine meistern, all die Wunder mit eigenen Augen und ganz ungestört sehen.

 

Ich wollte nämlich etwas, nach dem ich mich schon sehr lange sehnte: Mich selbst finden.

 

Irgendwie hatte ich ja das vage Gefühl, ich würde Schriftstellerin werden - zugleich nagte aber auch der Zweifel gierig an mir. War ich denn dazu berufen, Autorin zu sein oder zu etwas ganz anderem? Wer war ich wirklich, ganz wirklich, unabhängig davon, was andere in mir sahen und von mir wollten? Diese Fragen brachen mehr und mehr durch. Vielleicht kommen sie in jedem Menschen mal auf, vielleicht mehr als einmal. In meiner Brust jedenfalls fühlten sie sich pudelwohl. Sie wollten gar nicht mehr weg.

 

Tja, für Neuseeland war mein Reisebudget leider nicht üppig genug. Nicht einmal annähernd. Aber es gab eine ausgesprochen preisgünstige Alterntive: Sardinien.

 

Immerhin auch eine Insel. Vielleicht nicht groß genug, um wochenlang unterwegs zu sein, aber für den Anfang sollten 14 Tage reichen. 14 Tage ganz allein, nur mit mir. Damit ich mich finden konnte.

 

Los ging es mit einem Rucksack, der fast so groß war, wie ich selbst und ungefähr halb so viel wog wie ich. Darin: Schlafsack, Isomatte, Esbit-Kocher, Wasservorrat, Proviant, ein paar Wechselklamotten, Zahnputzzeug und Deo, Kartenmaterial, Kompass, Taschenmesser ... und natürlich Schreibzeug! Was man eben so braucht in der Wildnis.

 

 

 

Meine erste Nacht habe ich in einer kleinen Pension am Rande der Wildnis verbracht, am Morgen nach dem Frühstück gings los. Den ersten Teil des Weges durfte ich mir mit einigen wenigen Wanderern teilen, auf dem ersten Gipfel hockten lose verstreut ein paar Touris auf den Felsen. Ich auch. Bis hierhin, wo alle gingen, war der Weg breit und ausgeschildert gewesen. Selbst ohne Karte und Schilder wäre der Gipfel kaum zu verfehlen gewesen. Jenseits davon gab es nur schmale Trampelpfade. Keine Schilder mehr. Und niemand ging auf der Rückseite des Berges. Alle marschierten brav wieder vorne hinunter.

 

Sollte ich das wirklich machen? Einfach dorthin gehen, wohin niemand ging? Allein. So als Mädchen? (wobei sich in dieser Frage mehr die Befürchtungen meiner Umwelt spiegelten als meine eigenen) Ich schaute mich verstohlen um, hoffte, dass niemand bemerkte, wie ich mich unrechtmäßig von der anonymen Herde entfernte und mitten hinein ging, ins Nirgendwo.

 

Es wurde ein Abenteuer!

 

Natürlich fand ich nur einen Teil der Pfade, die in meiner Karte verzeichnet waren. Natürlich endete ein Teil der Pfade, die ich stattdessen fand, an steilen Abgründen, die ich nicht hinunterkraxeln wollte. Und natürlich hatte ich nicht endlos viel Wasser bei mir und obwohl es erst April war und entsprechend kalt in der Nacht, war es tagsüber ordentlich heiß und von sprudelnden Gebirgsquellen keine Spur.

 

 

 

Tagsüber marschierte ich, mit Kompass und Karte navigiernd, machte über die Mittagszeit Rast, erfreute mich meiner Einsamkeit und der grandiosen, ebenso kargen wie malerischen Natur, schrieb meine großartigen Gedanken im Schatten eines Baumes nieder und war zufrieden mit mir.

 

Wenn es langsam dämmrig wurde, suchte ich mir eine geschützte Stelle, rollte meine Isomatte aus, machte es mir gemütlich, schrieb noch ein bisschen, so lange ich Tageslicht hatte. Und dann? Dann nicht mehr. So viele Reservebatterin für die Taschenlampe hatte ich nun auch nicht dabei, außerdem war mir doch etwas mulmig. Besser, ich machte im Dunklen nicht unnötig mit Licht auf mich aufmerksam. Nicht, dass ich tagsüber jemals jemanden hier gesehen hätte. Trotzdem.

 

Also kuschelte ich mich in den Schlafsack, der zwar für extreme Minusgrade ausgelegt war - zumindest versprach das die Packung - aber dem sardischen Frühling nur bedingt standhielt, und machte mir warme Gedanken. Oder irgendwelche Gedanken.

 

Es ist verdammt still in solchen Nächten. Auch wenn ein wenig Natur rinsherum lebt. Die Erde schrumpft unter einem gigantischen Sternenhimmel, das kleine Menschlein in seiner ungenügenden Wärmehülle, wird klein wie ein Stecknadelkopf.

Lang und kalt sind solche Nächte. Und einsam. Schrecklich einsam.

 

 

 

Nicht, dass ich mich gefürchtet hätte, oder meinen Entschluss bereut, allein ins Nichts zu marschieren. Nicht im Geringsten! Auch wenn ich mir zwischendurch gar nicht mehr so sicher war, ob ich den Weg aus der Wildnis jemals wieder finden würde - vor allem bevor ich gar kein Wasser mehr hatte.

 

Ich habe eins gelernt allein da draußen: Wer ich bin. Da draußen bin ich nämlich nur eins: Allein da draußen. Nicht mehr, nicht weniger.

Die Fragen nach dem Sinn, der eigenen Bestimmung, sind im Grunde ziemlich egal, wenn man verflixt nochmal den Weg nicht findet und es morgens um vier so schweinekalt ist, dass man beschließt, mit den ersten schwachen Sonnenstrahlen alles wieder einzupacken und lieber in der einladenden Wärme des Mittags ein kleines Nickerchen im Schatten zu machen.

 

Und dann fand ich zurück in die Zivilistation.

Ein nettes Pärchen nahm micht mit in die nächste kleine Stadt, ihre Pension hatte noch ein Zimmer für mich. Die Pension war eine Art WG mit Gemeinschaftsküche, in der man sich selbst verköstigte. Sehr nett und sehr persönlich. Und natürlich wollten alle wissen, wie und warum und wieso ein Mädchen alleine herumwandert und einen so schweren Rucksack trägt und überhaupt. Schwupps: Ich war schon wieder komisch. Verdammt komisch sogar.

 

In Erklärungsnot, weil das, was mich dorthin gezogen hat, sich für andere furchtbar seltsam anhören musste. Kaum jemand sonst würde auf so eine blöde Idee kommen. Ganz allein. Was da alles passieren kann.

 

Nach ein paar Tagen brach ich wieder auf, diesmal wollte ich ein Stück an der Küste entlang marschieren. Wieder allein. Meine Pensionsgenossen fanden das äußerst bedenklich.

 

Ehrlich gesagt war ich froh, wieder für mich wandern zu können, ohne jemandem zu erkären, was ich da tat und warum ich es tat, ohne Aussicht, dafür Verständnis zu ernten.

 

Es war eine anstrengende Reise. Sie war auch gefährlich. Wahrscheinlich war sie ausgesprochen leichtsinnig. Aber ich war verdammt stolz auf mich, glücklich bei jedem Hindernis, das ich überwand.

 

Und, wirst du fragen, hast du dich denn jetzt gefunden? Wusstest du am Ende, was deine Bestimmung ist, wer du bist?

 

 

Nein. Nein, ich hatte keine eine, belastbare Antwort auf diese Fragen.

 

Aber ich habe gelernt, dass die Antwort auf Fragen solcher Art von den Bedingungen abhängt. Die Antworten sind Spiegelungen. Wir spiegeln uns in der Umgebung, der Natur, dem Sternenhimmel, spiegeln uns in den Menschen, die wir treffen, mit denen wir uns austauschen.

 

Jede Spiegelung ist eine Facette. Für diesen Augenblick da und gültig. Im nächsten vielleicht schon nicht mehr.

 

Bin ich komisch, anders, verrückt? In manchen Spiegeln sieht es so aus.

Bin ich selbstbewusst, stark? Ja, auch das.

Bin ich schüchtern, verklemmt, leicht zu beschämen? Oh ja!

Bin ich berufen, Geschichten zu erzählen? Wenn ich selbst in den Spiegel sehe, spiegelt sich da manchmal ein Nein. Auf dem Papier spiegelt sich ein großes, deutliches Ja, wann immer ich schreibe.

 

Ich habe keine eine, richtige Antwort gefunden, sondern viele. Das hatte ich mir natürlich ganz anders vorgestellt und zuerst war ich ziemlich gefrustet, weil "es nicht funktioniert" hat. Vielleicht hatte ich ja nicht richtig nach mir gesucht.

 

Im Nachhinein glaube ich, dass ich verdammt richtig gesucht hatte: Ich bin meiner Neugierde gefolgt, meiner eigenen Idee und habe ausprobiert, wie ich mich in dieser Situation spiegle. Habe Facetten entdeckt, Fähigkeiten, persönliche Grenzen, habe Erfahrung gewonnen. Schlicht: Ich habe voll und ganz gelebt. Und das, das ist die eigentliche Antwort auf meine vielen Fragen.