Schuster ...

... bleib bei deinen Leisten.

 

Früher, im Mittelalter zum Beispiel, gab es eine einzige gesellschaftliche Regel, die ein ganzes Menschenleben bestimmt hat: Jeder konnte bestenfalls nur das werden, was seine Eltern vor ihm waren. Falls er der Erstgeborene war. Alle anderen hatten ohnehin das Nachsehen.

Das Mittelalter. Eine Zeit, die so lange zurück liegt, dass sich spannende Projektwochen in Grundschulen zu diesen Thema veranstalten lassen.

Aber ist es heute wirklich so viel anders?


Natürlich kann jeder heute einfach alles sein! Werbespots für kleine Mädchen (pardon, für die Eltern kleiner Mädchen, wir dürfen Kinder ja nicht direkt ansprechen) verkünden froh diese Botschaft. Prinzipiell ist es auch tatsächlich so: Niemand muss Kellner werden, weil der Vater Kellner ist. Niemand muss Bundeskanzler werden, weil der Vater einer ist. Niemand muss Landwirt, Biochemiker oder Literaturwissenschaftler werden. Es wird sogar niemand gezwungen, in die Schauspielerfußstapfen des Vaters zu steigen. Oder der Mutter. Es dürfen sogar Jungs Erzieher werden und Mädchen Schreinerinnen. Niemand hindert sie daran.

 

Trotzdem ist es doch so, dass sich gerade in der Bildung und der Schullaufbahn von Kindern die Bildungswege ihrer Eltern wiederholen. Das Akademikerkind wird sehr wahrscheinlich aufs Gymnasium gehen, das Handwerkergesellenkind sich womöglich eher mit der Hauptschule begnügen - wobei die Wahl der Schule nicht unbedingt an der Intelligenz der Kinder hängt. Das sind Dinge, die wissen wir alle schon eine Weile. Regelmäßig gibt es neue Studien, die diesen Sachverhalt unter Beweis stellen. Regelmäßig wird geseufzt und gestöhnt und schulterzuckend zur Kenntnis genommen, dass sich solche Dinge eben nur schwer ändern lassen.

 

Tatsächlich: ich habe nicht lange darüber nachdenken müssen, um eine Reihe von Beispielen unter meinen Bekannten zu finden, die eindeutig beweisen, dass noch heute das Kind in die Fußstapfen eines Elternteils tritt. Ganz selbstverständlich und ohne dass es gesetztlich vorgeschrieben ist. Selbst, wenn die Eltern keinen großen Erwartungsdruck in dieser Richtung aufbauen. Der Sohn des Metzgers - wird Metzger und übernimmt den Betrieb. Der Sohn des Architekten wird Architekt und arbeitet sogar in der selben Firma wie einst sein Vater. Der Sohn des Maurers wird Maurer. Oder der Beamtensohn, der ebenfalls Beamter wird.  Bei den Mädchen ist es schwieriger Beispiele zu finden, denn die meisten Mütter meiner Schulkameradinnen waren Hausfrauen. Wenn sie nicht Bäuerinnen waren.

 

Und dann gibt es noch die Gegenbeispiele. Ja wirklich, warum auch nicht. Von der Bauerntochter, die IT-Systemelektronikerin wurde, zum Beispiel. Die mit der Mittleren Reife schon die Schulabschlüsse ihrer Eltern überboten hat. Das wäre dann ich.

Aber ich kenne noch mehr Leute, die das, was ihre Eltern machten, einfach nicht übernommen haben, sondern einen ganz anderen Weg einschlugen. Menschen, die gar nicht so sind, wie ihre Eltern und Großeltern, die stattdessen das tun, was ihnen am Herzen liegt. Die ihren Sehnsüchten, ihren Träumen folgen. Die darauf vertrauen, dass irgendwo da draußen die Antwort auf ihre bangen Fragen liegt.

Das sind die Menschen, die ich persönlich sehr bewundere. Weil sie nicht so sind, wie es von ihnen insgeheim erwartet wurde.

 

Aber Moment mal. Stimmt das auch?

Nun ja, ich kann anderen nicht ins Herz schauen. Manchmal kann ich es kaum bei mir selbst. Aber wenn ich zu mir ehrlich bin und genau hingucke, dann sehe ich etwas, was ich lieber nicht sehen wollen würde.

Egal wohin ich  mich wende, egal, welchen Weg ich einschlage, egal wie sehr ich mich an meine Ideen und Wünsche klammere: ich komme meinem Stall nicht aus.

 

Klar, ich kann die Haltungen meiner Eltern ablehnen, ins Gegenteil verkehren. Ich kann bewusst Dinge tun, die sie niemals gut gefunden hätten. Um sie vielleicht zu ärgern  oder nur, um mich abzugrenzen. Oder weil mir diese Dinge wirklich wichtig sind. Ich kann ein Leben leben, das sich ganz und gar von dem meiner Vorfahren unterscheidet. Ich kann Dinge in meinen Mittelpunkt rücken, die sie nicht einmal kennen würden. Ich kann auch nie wieder etwas mit ihnen zu tun haben, mich nicht mehr an sie erinnern, ihre Bilder aus meinem Alltag tilgen.

 

Trotzdem bleibe ich bei meinen Leisten.

Denn alles, was ich bin, hat meine Umwelt mitgestaltet. Alles, was ich für möglich oder unmöglich halte, schätze ich deswegen so ein, weil ich in eine Welt hinein geboren wurde, in der manche Dinge eben möglich, andere unmöglich waren. Auch wenn Eltern, Großeltern, Lehrer, alle um mich herum, vielleicht nicht absichtlich meine Grenzen abgesteckt haben - sie haben es dennoch getan.

Jede einzelne dieser Grenzen würde man heute einen Glaubensatz nennen. So ein Ding, das man nur erkennen, ins Gegenteil verkehren und sich in einer positiven Formulierung neu ins Hirn programmieren muss, um ein anderer zu werden. Ein erfolgreicher Mensch, einer, der keine Angst mehr davor haben muss, ins Rampenlicht zu treten, einer, der sich seines Spiegelbildes nicht mehr schämt, der felsenfest von der Güte seines Vorhabens überzeugt losmarschiert und sich seine Lorbeeren holen geht.

 

Geht das wirklich? Vielleicht.

Wahrscheinlicher ist, dass es nur soweit funktioiert, dass man zwar losläuft, hochmotiviert ist, ganz fest auf einen Punkt fukusiert - und von all den anderen Überzeugungen und Ideen, mit denen man aufgewachsen ist, eins übergebraten bekommt.

 

Manchmal habe ich das Gefühl, je mehr ich kämpfe, je mehr ich mit den Ideen hadere, die nun einmal in mir sind und die mir sagen, dass Reichtum den Charakter verdirbt und Leute, die  nicht hart für ihr Geld arbeiten müssen, grundsäztlich schlecht sind, dass Kreativität zwar ganz cool, aber furchtbar unpraktisch zum Geldverdienen ist (auch wenn man hier hart arbeiten würde), desto mehr verstricke ich mich, desto enger ziehen sich die Schlingen dieses Netzes um mich.

 

Heißt das jetzt aufgeben? Heißt das, sich in sein Schicksal fügen? Einfach machen, was dem Stand entspricht, dem man entspringt, das, was das Umfeld für möglich und gut hält? Heißt das sich selbst verraten, all die Träume und Ideen ignorieren, die damit kollidieren?

 

Vielleicht liegt die Antwort nicht im Umprogrammieren und nicht im Kämpfen. Und nicht in der bedingungslosen Kapitulation. Sondern in der Verknüpfung der beiden Pole, in deren Spannungsfeld wir uns befinden.

Vielleicht sind wir einfach, was wir sind. Menschen mir Wurzeln. Und Expansionsdrang.

Denn ebenso wie der Stand eines Menschen dereinst vererbt wurde, gaben die Eltern ihren Kindern das Bestreben mit, ihre Welt ein kleines bisschen besser zu machen. Hier etwas zu verändern, dort etwas auszuprobieren. Manchmal sind die Angst-Gene womöglich stärker vertreten, als die mutigen. Aber der Entdeckergeist ist immer da.

Und wohin alle Glaubensatzgehirnwäsche, jede Fitnesswelle und alle Lifestyletipps uns nicht tragen, dorthin trägt uns ganz leicht und spielerisch die Neugier, wenn wir sie von der Leine lassen.

 

In meinem entstehenden Buch steht ein junges Mädchen vor einem Scheideweg: Die von den Eltern initiierte Ausbildung antreten und sich in ein Leben fügen, das schon zu Beginn keine Überraschungen mehr verspricht? Die Stukrutren, die in der Familie festgefügten Rollen weiterhin anerkennen, die eigene Rolle dort weiterspielen und für immer die bleiben, die sie schon immer war und nie sein wollte?

Oder den Tatsachen ins Auge sehen und den anderen Abzweig wählen? Den, den nur das Mädchen als Weg wahrnehmen kann, den es für andere gar nicht gibt. Einen Weg, der erst mit jedem ihrer Schritte entstehen wird, der sie ins Abenteuer, in Gefahr und vielleicht ins Glück führt, wer weiß? Und dabei jeden Halt loslassen, jedes Wissen über sich selbst und ihren Platz? Und trotzdem die Familie, die Wurzeln mit sich tragen, egal, wohin sie geht?

 

Eine schwere Entscheidung, wenn man siebzehn ist.

Und eine, die sich vielleicht erst viel später im Leben stellt.

 

Wie würdest du dich entscheiden an ihrer Stellen?

Und wie hast du dich entschieden, Schuster?