Mal reinlesen? Gerne!

Ein erster, kleiner Auszug aus dem Anfang des Buches ...


Dichte Wolken verdeckten die Sonne und legten ihren grauen Schatten über die sanft abfallende Wiese. Judit hob den Kopf und blickte an den mächtigen Fichten empor, die über ihr aufragten, doch auch in den Wipfeln fing sich keine Sonne mehr.
Krampfhaft schluckte Judit die Verzweiflung hinunter, die beim Anblick des düsteren Himmels wieder nach ihr griff. Sie wollte nicht mehr an den Vormittag denken. Ihr blieben noch vier Wochen, vier ganze Wochen! Achtundzwanzig Tage Zeit für eine Idee, für irgendeine Lösung, die besser war, als die des Vaters.
Sie war siebzehn Jahre jung, ihr Leben lag in voller Länge vor ihr. Vielleicht würde sie reisen, ja, einfach reisen, mit leichtem Gepäck und ohne Besitz. Sie konnte bis nach Tibet trampen oder für eine Überfahrt mit dem Schiff nach Australien ein paar Wochen arbeiten. Na gut, wahrscheinlich träumte sie nur einfach und würde sich nie trauen, ganz alleine weiter als bis in den Wald zu gehen.
Ganz sicher aber würde sie eines Tages das Meer sehen. Judits Blick glitt über die von dunklen Fichten bestandenen Hügel, die sich bis zum Horizont erstreckten, und stellte sich vor, es wären turmhohe Wellen. Wellen, die heranbrandeten und mit Macht an den Rumpf eines hölzernen Dreimasters schlugen. Judit hielt das Steuerrad auf Kurs, der Wind trieb ihr die Gischt ins wettergegerbte Gesicht, über ihr kreischten die Möwen, die Luft schmeckte nach Salz und Freiheit. Ja, auf dem Meer, da würde sie sich sicher fühlen und lebendig. Jeder Atemzug würde nach Freiheit riechen. „Luftschlösser!“, hatte er gebrüllt. „Nichts als Luftschlösser!“
Hochrot der Kopf, die Halsschlagader war seildick und pulsierend hervorgetreten. Spucke spritzte in Judits Gesicht.
„Aber Papa ...“
„Was, aber Papa?! Was?“
„Ich meine ...“
„Was meinst du?“
„Sind wir nicht hier auf dieser Welt, um es wenigstens zu probieren? Sollen wir nicht wenigstens versuchen -?“
Die Tränen hatten sie übermannt, ihre Stimme versagte.
„Mit großen Träumen und mit Geheule kommst du zu nichts in der Welt, Judit! Komm endlich auf den Teppich! Du bist keine fünf mehr, du musst den Tatsachen ins Auge sehen.“
„Ich wollte doch das Abitur machen, studieren ...“
Die Faust des Vaters war mit einem Donnerschlag auf den Tisch gefahren, Judit zurückgezuckt.
„Dass ich nicht lache! Jetzt auf einmal willst du die Schulbank drücken? Fürs Abitur fehlt dir doch der Grips! Und das Sitzfleisch“, brüllte er. „Und was will die Madame überhaupt studieren? Hä? Was? Lass mich raten? Am liebsten Philosophie und Altgriechisch, damit du am Ende bloß kein Geld verdienen brauchst und mir weiter auf der Tasche liegst!“
„Papa, ich weiß nicht ...“
„Du weißt nicht! Klar weißt du nicht! Deshalb weiß ich es für dich: Du machst diese Lehre und damit basta!“
„Aber ich kann das nicht! Mir kommt schon bei dem Geruch alles hoch. Bitte, lass mich wenigstens was anderes suchen, irgendwas, aber -“
„Ha! Was willst du denn Besseres finden? Sei lieber froh, dass ich den Herbert schon so lange kenne. Der hätte dich sonst auch nicht genommen.“ Der Vater lachte auf. „Brauchst gar keine Kuhaugen machen, Fräulein, ja, so schaut es aus. Ich hab überall gefragt, ob dich jemand brauchen kann. Und wenn ich den Herbert nicht bekniet hätte, tät dich niemand nehmen. Die Welt wartet nicht auf Dummerchen mit dem Kopf in den Wolken. Niemand wartet auf irgendwelche großen Träume.“
Plötzlich klangen alle Geräusche verzerrt an ihre Ohren, ihr Körper fühlte sich nicht mehr an, als säße er fest auf der Eckbank. Die Küche verschwamm, der Ausbildungsvertrag, der vor ihr auf dem Esstisch lag, der grüne Kugelschreiber von der BayWa. Alles wirkte unwirklich, wie unter Wasser. Es war nicht Judit, die den Kugelschreiber schließlich aufnahm, die Mine herausdrückte und auf der noch freien Linie am Ende des Vertrags Judits Namen schrieb. Es sah nur so aus. Judit selbst war abgetaucht.
Wie in Trance folgte sie wenig später der Mutter zum Auto, ließ sich zum Einkaufen nach Michelried fahren, schlüpfte mechanisch in die Schürzen für die Ausbildung, die die Mutter ihr reichte, drehte sich auf Aufforderung vor dem Spiegel und ließ die Mutter kaufen, was sie kaufen wollte.
Erst als sie nach fast einer Stunde Autofahrt wieder auf dem Schotterplatz neben dem Blumengarten anlangten, lichtete sich Judits Blick allmählich. Sie stieß die Autotüre auf, sprang heraus und rannte.
Sie rannte ums Haus, rannte den Hügel hinauf und immer weiter. Bis hierher an den Waldrand, wo sie sich wieder und wieder die Tränen abwischte und beschloss, stark und tapfer zu sein - und keine zwei Atemzüge später wieder losflennte.
Judit holte tief Luft. Sie fühlte sich unendlich matt, wie nach einem langen, entbehrungsreichen Kampf, den sie trotz allem verloren hatte.
Über ihr ballten sich die Wolken und der aufkommende Wind roch nach Regen, eine Böe fuhr heftig in die Fichten und riss am Laub der wenigen Buchen, die die Monokultur durchbrachen. Aus der Ferne rollte tiefes Donnergrollen heran. Sie musste wirklich los. Nachhause. Schnell.
Judit blieb sitzen. Die düsteren Wolken schluckten das letzte Licht, der Wind pflügte durchs blühende Gras zu Judits Füßen. Ein Blitz zuckte auf und prompt folgte der Donner. Es war nah, das Gewitter. Sehr nah.
Judit rührte sich nicht. Erste Regentropfen rieselten aus den Wolken. Kleine, unscheinbare zuerst, die Judits nackte Füße kitzelten. Es roch nach durstiger Erde, die gierig trank, nach warmen Staub, den die Tropfen aufwirbelten. Und wenn Judit ehrlich war, liebte sie nichts so sehr, wie Gewitter. Denn wenn sie spüren konnte, wie die Kraft der Natur sich entlud, wie die Elemente um sich schlugen, fiel alles von ihr ab.
Die Tropfen wurden größer, schlugen härter ein. Wieder und wieder blitzte es, Donner rollte von Hügel zu Hügel. Der Wind trieb den Regen unter die Bäume, blies ihn in Judits Gesicht. Die Tropfen rannen über Judits Nase, klatschen auf ihr T-Shirt, die nackten Beine. Wenn sie sich nicht den Tod holen wollte, musste sie los.
Langsam streckte sie sich, bewegte die steif gewordenen Zehen, bevor sie aufstand. Sie lief barfuß in den Wald hinein. Die Nadeln und verdorrten Zweige machten ihr nichts, das war sie gewohnt. Judit folgte dem Trampelpfad, den sie sich mit den Wildschweinen teilte und huschte tiefer in den Wald hinein, während über ihr das Gewitter tobte und die Wipfel der Fichten hin und her warf.
Die Tropfen schlugen hart in Judits Gesicht. Sie begann doch zu rennen. Immer den Berg hinunter zu dem befestigten Weg, rannte über tief eingefahrenen Schotter, sprang über frisch abgerissene Fichtenzweige hinweg. An ihren Füßen und bis hinauf zu den Knien klebten verdorrte Nadeln und welkes Laub.
Windstoß um Windstoß brachte mehr und mehr Regen und Kälte mit sich. Mit einem brachialen Knall brach ganz in der Nähe ein Baum. Als sie japsend am Waldrand ankam, war sie klatschnass und halb erfroren. Die Steine stachen ihr wegen der Kälte scharf in die Sohlen. Judit verlangsamte ihren Schritt. Sie wischte sich das Wasser aus dem Gesicht, holte tief Luft und rannte aus dem Wald.
Ein niedersausender Blitz blendete sie, dicht gefolgt vom Donner. Judit zuckte heftig zusammen, schrie auf, aber sie rannte weiter. Der Schreck pulsierte in ihren Adern, sie fühlte sich lebendiger als jemals zuvor. Lachend rannte sie im strömenden Regen den Hügel hinab, teilte sich den Weg mit dem in Bächen hinunterrinnenden Wasser, rannte, bis sie auf das Ende der schmalen Teerstraße stieß.
Der Asphalt fühlte sich noch warm an. Judit atmete den Geruch der regennassen Straße und lief auf die Scheune zu, die am nächsten zum Waldrand stand. Ja, das war Freiheit. Und fast so, wie den Dreimaster durch den Sturm zu lenken.
Sie hechtete durch den Wasservorhang, der vom Wellblech herab prasselte, lehnte sich unter dem schmalen Dachvorsprung an das warme, verwitterte Holztor der Scheune und keuchte. Sie hatte es fast geschafft, musste nur noch die Straße überqueren, doch als Judit durch die herabrinnenden Wasserfäden hinüber schaute zum Haus mit dem vom Alter buckligen und vom Regen dunkel glänzenden Dach, verließ sie der Mut. Sie schlotterte vor Kälte, ihre Oberschenkel schimmerten bläulich.
In der Stube brannte Licht. Der Vater saß sicher drin, las Zeitung. Und Micha würde bei ihm sitzen, am Kreuzworträtsel scheitern und dem Vater tausend Fragen stellen, die ihm das gute Gefühl gaben, unheimlich viel zu wissen. Die Mutter würde hinten in der Küche hantieren.
Judit fror erbärmlich, ihre Zähne schlugen unkontrolliert aufeinander. Sie musste endlich rein gehen. Entschlossen stieß sie sich vom Holztor ab, schritt unter der Eisdusche an der Dachkante hindurch, überquerte den Asphaltstreifen, der das einzelne, uralte Fachwerkhaus mit dem Rest der Welt verband, schob das Gartentürchen auf, huschte an den eifrig im Regen nickenden Blumen der Mutter vorbei und die zehn ausgetretenen Granitstufen zur Tür hinauf.
Judit griff nach der Klinke. Doch obwohl ihre Hände und Füße vor Kälte weh taten, hielt sie inne, legte den Kopf schief und lauschte. Außer einem verhallenden Donner und dem Regenprasseln hörte sie nichts. Trotzdem wusste Judit, wie es stand. Die schlechte Laune des Vaters hing noch immer in der Luft. Und sie würde sich weitaus länger halten, als jede Gewitterfront.


Lust auf mehr?

 

Bald gibt es mehr zu Lesen, versprochen!