Lieben und lieben lassen

Es ist noch nicht annähernd hell draußen, als mein Mann sein Pausenbrot in den Rucksack packt und mir etwas erzählt. Etwas, das mein Herz auf eine Weise ins Klopfen bringt, die ich beinahe vergessen hatte. Weil wir eben schon so lange zusammen sind, die Vergangenheit weit zurückliegt. Er hat mich daran erinnert, dass Liebe nicht gleich Liebe ist. Nicht an diesem 12. Januar im Jahre 2018 um 6:34 mitteleuropäischer Winterzeit, nicht in diesem Land. Er hat mir vom Onkel eines Kollegen erzählt.

 

Die letzten fast neun Jahre, die ich an seiner Seite leben durfte, haben mich fühlen lassen, wie wunderbar weltoffen und tolerant Menschen miteinander umgehen können. Ich durfte einfach eine Frau von vielen sein, die ihren Alltagsangelegenheiten nachgeht. Wir wollten zusammenziehen - die Immobilienmaklerin fand uns symphytisch, wollte nur die letzten drei Gehaltszettel sehen und Schwupps: Wir zogen zusammen.

 Unsere neuen Nachbarn akzeptierten uns von Anfang an, plauschten hier und da gerne mit uns oder grüßten freundlich von der anderen Straßenseite. Ich wurde schwanger und wir heirateten, weil wir uns sicher waren, dass wir zusammen gehörten. Es regnete Glückwünsche, man freute sich mit uns. Ich führte nicht das Leben, von dem ich immer geträumt hatte, denn ehrlich gesagt: ich hatte nie den Zukunftstraum verheiratet und bekindert zu sein. Kein bisschen. Ich wollte nur meinem Herzen folgen, denn alles andere, das wusste ich früh, ist tödlich. Und nun war ich meinem Herzen gefolgt, hatte einfach getan, was sich richtig anfühlte und es war gut so. Für mich. Und offenbar fand das auch meine Umwelt supidupi.

 

Abgesehen davon, dass nicht irgendwann ein zweites Kind unterwegs war. Damit waren einige meiner Mitmenschen sehr unzufrieden. Auch solche, die selbst keine Kinder hatten und auch keine Anstalten dazu machten, welche in die Welt zu setzen. Doch die Zeit strich ins Land, aus dem Kleinkind wurde ein großer Junge und man gab offenbar die Hoffnung auf, mit spitzen Fragen weiteren Nachwuchs zu initiieren.

Wie gesagt: Ein Bilderbuchleben, zu dem viele unausgesprochen ihre Zustimmung signalisierten, zumindest aber merken ließen, dass es im Großen und Ganzen schon ganz in Ordnung war, wie ich das so machte.

Eingepackt in diesen Kokon aus tausend Passt-Schons, vergaß ich beinahe, wie es ist, wenns nicht passt.

 

Wir sind von München, einer Multikulti-Stadt mit großem Toleranz- und Jungvolkfaktor, einer Stadt, in die viele Studenten und Berufseinsteiger ziehen, um Anteil an diesem bunten Treiben zu nehmen und selbst einen frischen Teil der Gesellschaft zu bilden, aufs Land gezogen. In den Odenwald. Dort, wo es augenscheinlich von großer Bedeutung ist, aus welchem Dorf wer kommt und wie die Leute „dort“ so sind. In dem anderen Dorf, in dem man nicht selbst aufgewachsen ist. Und es ist nur eine kleine Anekdote, aber sie zeigt mir deutlich: Hier, heute, in diesem Land im Morgengrauen, da ist dieser Passt-Schon-Kokon lebenswichtig. Denn wer ihn nicht hat, der hat das zweifelhafte Vergnügen sich abgelehnt zu fühlen.

 

Geflüstert wird da die Info weiter gegeben: „Mein Onkel, der ist ja ... na ja, schwul.“

Immerhin, man spricht es aus, nicht wahr? Die Dinge beim Namen zu nennen nimmt ihnen ja gerne den Schrecken. Der Kontakt mit dem Fremden, dem Anderen führt dazu, dass es vertraut und normal wird. Dazu, dass es nicht mehr von so großer Bedeutung ist, sondern zur Fußnote im Beziehungsgeflecht werden kann. Dass jemand hetero ist, ist ja auch nicht mehr als das. Eben eine Info, die nebenbei mit abgespeichert ist.

Und wie weit ist das Kennenlernen dieses Umstandes gediehen?

„So lange er nicht drüber spricht und seinen `Freund´ nicht mitbringt, ist alles in Ordnung.“

Ah, ja. Anders gesagt: So lange man sich nicht aus Versehen daran gewöhnt, dass dieser Mann einen Mann liebt, ist alles gut.

Klar, logisch, man muss sich nicht irgendwie neu verdrahten im Hirn, keine neuen Einsichten gewinnen, das eigene Weltbild keinen halben Millimeter nachjustieren. Alle können schön so bleiben, wie sie sind. Und sie können ihren eigenen Passt-Schon-Kokon damit weiter auspolstern, denn mal ehrlich: So sind wir selbst ja nicht. So anders. So, dass man von unserem Lebensgefährten nichts hören will. Dass die Leute über uns flüstern müssten. Wir sind voll in Ordnung und das umso mehr, weil ein paar andere voll nicht in Ordnung sind. Der Kontrast macht die Wohlfühlschicht um uns herum erst so komfortabel. Lässt die eine oder andere unserer Eigenheiten gar nicht mehr so komisch aussehen. Denn im Großen und Ganzen - ihr wisst schon - passt es schon.

 

Die AfD forderte vor einiger Zeit, dass die Sache mit der Toleranz nicht sein dürfe. Denn es geht ja nicht an, dass die Menschen, die sich aus irgendwelchen Gründen als schwul, lesbisch oder gar noch als im falschen Körper geboren outen, damit akzeptiert werden. Da könnten ja noch mehr auf die Idee kommen, anders zu sein. Und dann bekämen die alle keine Kinder mehr und das edle Volk der Deutschen wäre plötzlich weg. Einfach so. Eine tausendjährige Kultur dem Untergang geweiht, wegen dieser Toleranzgeschichte. Irgendwann, in vielen hundert Jahren, würden Forscher die Ruinen dieser sagenhaften Kultur Schicht um Schicht freilegen, die Artefakte katalogisieren, 3D-Scanns der Fundstätten machen, ihre Ergebnisse zusammen tragen und zu dem tragischen Schluss kommen: Die Toleranz hat sie niedergerafft wie die Fliegen. Sie waren einfach nicht immun dagegen. Schlimm, schlimm.

 

Aber mal ehrlich: Würde wirklich jemandem ein Zacken aus dem Krönchen fallen, wenn er sich nicht vehement abgrenzt? Wenn er andere einfach sein ließe, wie sie sind. Lieben und lieben lassen als Lebensmotto praktizieren würde?

 

Das wäre doch ganz einfach. Die „Was du nicht willst, das man dir tu“-Nummer, die wir alle in unserer Kindheit hören durften, in einen positiven, praktisch anwendbaren Satz umgewandelt, so dass das Unterbewusstsein keine Verständnisschwierigkeiten hat. Und das heißt ja auch nicht nur: Lass die anderen lieben, sondern auch: Liebe selbst. Ist doch schön! Einfach mal die Welt umarmen, sich selbst, die lieben Menschen, die einen umgeben mit einem herzlichen Lächeln empfangen, den Partner einfach so, weil das Herz überquillt, ganz fest an sich drücken und schwören: „Du, ich lass dich nie wieder los. Lass uns die Zeit anhalten.“

 

Ja, das wäre schön, nicht wahr?

Aber warum funktioniert das dann nicht?

Vielleicht aus einem ganz einfachen Grund: Wir können schlecht jemanden lieben lassen, wenn wir selbst nicht lieben.

Jeder, der schon mal frisch verliebt war, wird wissen, dass es in diesem euphorischen, glückstaumelnden Zustand fast unmöglich ist, jemanden blöd zu finden. Unmöglich, jemanden anzupöbeln oder hinter vorgehaltener Hand gemeine Sachen zu zischeln, wir fluchen nicht, wir rasten nicht aus. Es sei denn, unser Glücksgefühl ist so grandios überwältigend, dass wir jauchzend auf und ab springen müssen, um nicht zu platzen.

Klar, verliebt sein und die „erwachsene“ Ausführung davon, die Liebe, das sind zwei paar Stiefeletten. Man kann ja nicht immer nur glückselig sein, der Alltag und so.

Ich frage mich nur, wie weit es mit der Liebe dann am Ende tatsächlich oft her ist. Läuft das ganze Balzverhalten, die Pärchenbildung, die Familiengründung nicht viel zu häufig auf Nichtliebe hinaus. Auf Gleichgültigkeit, auf Pflichterfüllung und Normalsein? Hat nicht jeder in dem heiligen Konstrukt der Familie seine Aufgaben, seine Funktion und kann eine Funktion ein großes Herz haben und sich und seine kleine Welt darin liebevoll warm halten?

Ne, ganz sicher nicht.

 

So lange es Menschen gibt, die ihr Leben einfach leben, wie man das so macht, so lange es Menschen gibt, die mit anderen Menschen eben zusammen sind, weil sich das mal so ergeben hat und jetzt Kinder da sind, so lange es Menschen gibt, die ihr eigenes Leben so wenig mögen, dass sie am liebsten gar nicht darüber nachdenken wollen, so lange wird es Ausgrenzung geben.

 

So lang wird der schwule Onkel von irgendwem bei jeder Familienfeier nichts Persönliches erzählen können und sich inmitten der quasselnden Leute furchtbar einsam fühlen. So lange kann dieser Onkel von irgendwem nicht beherzt nach der Hand seines Liebsten greifen und sagen: „Hier, das ist mein Freund. Der tollste Mann, den ich kenne!“ So lange wird der Onkel von irgendwem nicht die Freiheit haben, seine Liebe so offen zu leben, wie all die anständigen „Normalen“ um ihn herum.

 

Und ich wage zum Abschluss noch eine kleine These: Vielleicht liebt dieser eine Onkel von irgendwem ja auch viel mehr, viel tiefer, als der Rest seiner verknöcherten Verwandtschaft. Vielleicht wollen die anderen das bloß nicht sehen, damit sie nicht erkennen müssen, wie lieblos und beliebig die eigene Beziehung längst geworden ist.

Denn eins steht fest: Wenn du anders liebst als die anderen, triffst du jeden Tag aufs Neue die Entscheidung für diesen einen besonderen Menschen mit der Ausgrenzung zu leben. Mit ihm durch alle Tiefen zu gehen und die Höhen in geschützten Bereichen voll und ganz auszukosten.

War die Liebe zwischen Romeo und Julia nicht auch so herzzerreißend schön und magisch, weil sie verboten war? Jedes Hindernis, das sich dem Herz in den Weg stellt, lässt es machtvoller schlagen, rebellieren. Oder zerbrechen.

 

Lasst uns alle mehr Liebe wagen. Für uns selbst, auch wenn wir nicht so hübsch und cool und supertalentiert sind, wie wir uns gerne hätten. Für unseren Partner, der mit uns ganz selbstverständlich durchs Leben geht und dessen wunderbare Eigenschaften wir längst aus dem Blick verloren haben. Für unsere Kinder, die irgendwann anfangen, alles besser zu wissen und zu widersprechen, denn es ist gut, dass sie neu denken, statt unsere alten Muster blind zu kopieren. Und für unser Land. Nicht im heroischen, patriotischem Sinne, sondern einfach für das was es ist: Ein Land mit abwechslungsreicher, herrlicher Landschaft, von der See bis in die Berge hinein, mit fruchtbaren Feldern, pulsierenden Städten, tausenden Lichtern und Millionen Menschen, die alle nur versuchen, irgendwie richtig zu sein.

 

Den Passt-Schon-Kokon brauchen wir alle nicht. Denn wir passen auch so, wie wir ohne sind. Offen, verletzlich, voll mit Schmerz und Liebe.